Die schlechte Nachricht zuerst: Noch immer ist viel Zwist in der Welt.
Zum Beispiel jener typische Hader mit sich selbst, den man hin und wieder hat, morgens gegen fünf, halbwach überlegend, ob man dem noch eher piepsigen, aber nichtsdestotrotz deutlich vernehmbaren Ruf der Natur folgen und zum Pinkeln aufstehen soll oder lieber nicht. Dezente Beimengungen von in einer Stunde klingelt der Wecker sowie genau wissen, dass man, wenn man erstmal aufgestanden ist, ohnehin nicht wieder wird einschlafen können, solchermaßen also mit rechter Sicherheit mindestens einer ganzen Stunden kostbaren Schlafes verlustig geht, verleihen dem ganzen Krisencharakter.
Manch einer liebäugelt in solchen Momenten womöglich spielerisch mit dem Gedanken eines störrischen kleinen einfach Liegenbleibens. Eine tapfere Geste leeren Revoluzzertums. Denn schlafen kann man dann eh nicht mehr, wenn man die ganze Zeit denkt: “Ich muss zwar, aber ich geh jetzt nicht! Einfach nur, um zwischendurch mal wieder zu zeigen, wer hier verdammt nochmal das Sagen hat!” Und die Blase würde es erstmal hinnehmen wie eine gute Ehefrau, leise lächeln und nix sagen und es dann, so wissen wir alle ganz genau, zu gegebener Zeit heimzahlen, demnächst im Auto auf der A61, kurz hinter Koblenz, wenn es noch eine Stunde bis nach Hause ist. War es das jetzt wirklich wert, Schatz? In der gehässigen Welt der Körperfunktionen bleibt nichts ungesühnt.
Meistens ist man an diesem Punkt von dem ganzen Gehadere mit sich selbst allerdings bereits so wach, dass es eigentlich sowieso keine Rolle mehr spielt. Man steht also auf. Pinkelt. Im Dunkeln. Kriecht wider besseren Wissens ins Bett zurück. Wälzt sich grimmig. Schläft irgendwann dann doch wieder ein. Drei Minuten später klingelt der Wecker. Genuine Fuck!-Moment.
Man brummelt sich mißmutig wieder aus den Federn und weiß jetzt für einen sich wie ein Filmtrickkorridor in die Länge ziehenden Augenblick nichts Rechtes mit sich anzufangen, denn Pinkeln war man ja schon. Ein in ebensolchen Augenblicken aus nackter Desorientierung – ja, sie ist sehr nackt und kalt und monolithisch, diese Desorientierung, wie ein extrem stylisierter, aus Aluminium nachgebauter und im Innenhof eines Berliner Instituts für Totalitarismusforschung aufgestellter Felsen von Gibraltar in einer sehr muffigen und kalten Morgendämmerung – also, ein aus genau einer solchen geborener, folglich für die Postmoderne recht typischer existentieller Unmut bemächtigt sich des solchermaßen Geplagten. Alles Durcheinander, und sowas soll man geordnet bekommen mit viel zu wenig Schlaf? Ein Desaster!
So manch einer beginnt daher den Tag übellaunig und mit einer unterschwelligen Antipathie gegen die Schöpfung und gründet spontan paramilitärische Gedönsgruppen oder rückwärtsgewandte Parteiengebilde. Kleine Ursache, hässliche Wirkung. Auch, wenn ich mir nicht hundertprozentig sicher bin, ob Hannah Arendt gerade sowas meinte mit ihrer “Banalität des Bösen”.
Dummerweise kann man sie nicht mehr fragen, denn sie ist gerade rechtzeitig gestorben, um all das nicht mehr miterleben zu müssen. Und ihre heutigen Exegeten sind wahrscheinlich durchweg hornbrillige, in punkto Harndrang-Totalitarismus-Zusammenhangsforschung eher auskunftsunwillige Gesellen, die dauernd Pfeife schmauchen und überhaupt exakt so aussehen wie die unsexy Lateinlehrer, in deren Unterricht in den 70er-Jahre-Sexfilmchen immer die Minirockbackfische saßen, während sie vom sehr, sehr viel sexieren jungen Erdkundelehrer träumten. Genau weiß ich’s freilich nicht, so wichtig war mir das dann jetzt auch wieder nicht, als dass ich da tiefergehende Recherche betrieben hätte. Aber zumindest in dem Film über Hannah Arendt, den ich einmal sah, war das so. In den Hörsälen, Bibliotheken, Büros, ja selbst auf Flughäfen oder privaten Cocktailpartys sahen einfach alle so aus: Aus Pfeifen und Hornbrillen zusammengedengelte Lateinlehrer, so weit das Auge reichte.
Aber vielleicht ist das auch nur die allgemein von wenig Sachkenntnis getrübte Hollywood-Vorstellung vom Philosophen-Lifestyle – Filmleute sind ja oft eher schlichte Gemüter bzw. arbeiten im letzten Sinne für solche, also für ein Publikum, da versuchen sie wohl besser, allzu überfordernde Differenziertheit in der Ikonographie zu vermeiden. Wahrscheinlich war es schon ein Glück, dass Hannah Arendt nicht auch die ganze Zeit eine Hornbrille getragen hat.
Dafür hat sie die ganze Zeit Zigaretten geraucht, was wohl als etwas verstaubte Symbolik für ihren rebellischen Intellekt zu deuten ist. So als Remineszenz an die Gruppe 47 oder sowas, denn Intellektuelle wurden ja damals und für lange Zeit grundsätzlich nur rauchend gezeigt. Wahrscheinlich war es für Nichtraucher bis ca. 1975 gar nicht erlaubt, eine akademische Karriere anzustreben. Wer bei den Profis mitdenken wollte, der wurde nach Ankunft in den nach anderen berühmten Rauchern benannten Lehrstätten zuallerest mal wortlos beiseite gezerrt, in ein winziges Zimmer mit extra dick verrauchten Vorhängen gesteckt und musste unter Aufsicht inert einer Stunde eine Packung “Kurier” oder “Peer Export” wegquarzen. Wer das nicht schaffte, dessen Aufsätze wurden sofort ungelesen verbrannt, und der oder die Verschmähte musste stattdessen zum Fernsehen gehen, da wurde auch damals schon gelegentlich nicht geraucht, wiewohl nur als Inselphänomen für Medienschlaffis. Echte Philosophenhirne schwammen stets knietief in Nervengift, das spürt man ja auch heute noch in jeder scharf geschnittenen Zeile eines Camus oder Baudrillard, selbst in modernen Nachdrucken wirken die Sentenzen noch irgendwie genialisch verqualmt – wahrscheinlich werden sie seitens der Verlage vor Auslieferung noch mal extra von Horden jung seiender und das Geld brauchender Philosphiestudentinnen mit Retro-Glimmstengeln französischer Machart tüchtig authentizitätsberäuchert und dann zack! Aus der Wolke direkt in die Folie! Die Studentinnen machen vor der nächsten Charge eine Nichtrauchpause, sitzen mit ihren pinkfarbenen Feinstaubjäckchen und aus grellgelben Cordröcken hervorguckenden Knubbelknien auf dem Laderampenmäuerchen und googeln “Lungenemphysem” auf ihren Smartphones, aber nur so zur Info, natürlich bleiben sie trotz allem, denn sie sind wie gesagt jung und sie brauchen wie gesagt das Geld. Wer könnte es ihnen vorwerfen? In der gnadenlosen Buchberäucherungsbranche gibt es keine zweiten Chancen.
Wenn Sie demnächst also eine fürchterlich hustende, aber ansonsten kluge und adrette junge Frau mit allerdings recht hässlich nikotingelben Fingern sehen, wissen Sie jetzt: Aha, Husten und Finger sind nicht etwa Zeugnisse durchgerauchter Nächte in dunstigen Edel-Kaschemmen oder gar Dutzender schamloser Zigarette-danach-Zigaretten, die auf muffigen WG-Matrazen geraucht und anschließend in mit Wasser gefüllten Granini-Fruchtsaftflaschen zischend gelöscht wurden. Nein, sie war einfach nur jung und brauchte das Geld und hat fleißig den Camus oder Baudrillard authentisch gemacht! So entschwindet zumindest ein hässliches Vorurteil aus der Welt. Die Philosophenfinger und -vorhänge vergilbten in der Originalepoche derweil unbemerkt, denn die Fotos waren alle in Schwarzweiß. Die harte Welt der Philosophen.