„Sei immer Pipi, niemals Annika!“
Man frage mich bitte nicht, wo genau ich diesen Satz inzwischen viel zu oft lesen musste, nur so viel: Online-Dating ist eine Pest, über die selbst der sonst ja selten um ein philosphisch-überlegenes an der Zigarette saugen verlegene Camus wohl nur sehr widerwillig etwas geschrieben haben würde. Sein Glück, dass sein Ableben gerade rechtzeitig erfolgte, um von bestimmten mentalen Kollateralschäden verschont zu bleiben, z.B. der marternden Frage, inwiefern es meine digitalen Paarungschancen verbessert, sich als minderjähriges Hippiemädchen mit nuttenstiefellangen Ringelsocken zu verkleiden.
So jedenfalls setzte er der viel zitierten Gnade der späten Geburt die weithin unterschätzte Gnade des frühen geheimnisumwitterten tödlichen Autounfalls entgegen. Eine krasse Dychotomie? Möglicherweise. In einer Welt, in der sogar in Urinale Werbebildschirme eingebaut werden, kann ein bisschen Radikalität eigentlich nicht mehr allzu viel zusätzlichen Schaden anrichten. Welchen anderen Fremden oder notfalls auch per Handelsregister namentlich Ermittelbaren hätte Camus in seinem Buch womöglich sehr viel weniger zufällig erschießen lassen, wäre sein indolenter Protagonist im Laufe seines ohnehin nicht allzu erquicklichen Tagesablaufs auf die Webseite der Urinal-Werbebildschirm-Einbau-Firma „Loo&Me“ gestoßen? Das Geräusch im Hintergrund ist übrigens das seufzende Entzücken der versammelten Menge hipper Frisörläden, die hiermit ihren Spitzenplatz in der Hitparade der bescheuersten Firmennamenwortspiele erleichtert an die Pinkelbeckenbranche weiterreichen können. So bleibt die Welt in Bewegung.
Die Frage, auf welche Weise ein Hirn gehäkelt sein muss, das sowohl den Drang verspürt als auch die Fähigkeit besitzt, den einer multimedialen Zweitverwertung eigentlich nur begrenzt zugänglichen Vorgang der Fäkalentsorgung qua Webseitengeschwurbel zu einem urbanem Hipster-Event aufzufrisieren (Zitat: „Für alle, die nicht nur lässig unterwegs sind, sondern auch bei der Erfrischungspause das Besondere suchen ist Loo&Me die perfekte Anlaufstelle. […] Nach dem Loo&Me-Besuch geht es bei unseren Friends vor Ort clever weiter. Aktuelle Aktionen und Angebote findest du direkt bei deinem Lieblings-Friend.“), dürfte wohl noch das eine oder andere neurologische Forschungsprojekt aus hygienisch gefliesten Unilabor-Fußböden sprießen lassen. Zu den erwähnten Friends gehören dann übrigens Geschäfte wie „Ludwig Café“ und „Thüringer Grill“ – sowas nennt man dann wohl eine geschlossene Verwertungskette.
Apropos „geschlossene“ – hat sich eigentlich was getan hinsichtlich der pauschalen Einweisung sämtlicher Instagram-Influencer bzw. vorsichtshalber auch gleich aller sonstigen Travel-Addict-Annikas und Viral-Marketing-Sebastians? Wie jetzt? Das wurde noch gar nicht vorgeschlagen? Wieso nicht? Es wäre vorsorglich zu empfehlen, nur für den Fall, dass doch irgendwann mal ein Zeitreisender aus dem neunzehnten Jahrhundert hier auftaucht und wir ansonsten in die Verlegenheit kämen, jenem zu erklären, wie und vor allem warum „Foodblogger“ ein Beruf ist: „Ja, also… der macht dann halt ein Foto von seinem Haferbrei… und wenn er voll progressiv ist, dann legt er da noch so’n Stückerl Lauch drauf oder so. Und dann liken das 10.000 Follower und er bekommt ganz viel Geld…“
„Echt jetzt?“ wird der Zeitreisende dann evtl. erwidern.“Haferbrei?! Der war doch schon zu meiner Zeit eine Zumutung! Da haben die Food Influencer der dazwischenliegenden Epochen aber einen ziemlichen Fail produziert, Alta!“ Naja, vielleicht würde er es auch etwas anders formulieren, aber wir bewegen uns hier im kristallinen Bereich des vollkommen Nichtwirklichen, in der Fachsprache auch oft „Reality“ genannt, da spielen Details eine völlig andere Rolle als im richtigen Leben. Ich hatte ja an anderer Stelle bereits auf den Zusammenhang zwischen philosophischer Potenz und Nikotinkonsum hingewiesen. Aus der Tatsache, dass auf Instagram insgesamt sehr wenig bis gar nicht geraucht wird, mag der geneigte Reality-Exeget beliebige Schlüsse ziehen.
Camus wäre allerdings wohl auch der erste gewesen, der solch postmodernen Schutzraum für virtuelle Bedeutungsbiotope sehr interessiert beäugt hätte. Die Vorhänge dort sind zwar eher klinisch unverraucht, das wäre wohl nicht so sein Ding gewesen, aber all diese semantische Leere so liebevoll durchdekoriert von einer Legion zu spät Geborener, bei denen oft genug Berufung und Befähigung sich geweigert haben, einander mehr als einen flüchtigen Blick über eine sehr schlecht beleuchtete Tanzfläche hinweg zuzuwerfen – da hätte er eventuell doch nochmal einen Handel mit seinem allzu frühen Tod gemacht und wäre freudig eine Weile brav mit dem Bus gefahren, nur um das noch erleben zu dürfen.
Wir Menschen, die noch mit Wählscheibentelefonen und Wackersdorf-Demos im Röhrenfernseher aufgewachsen sind und denen es daher schon rein anatomisch unmöglich ist, all die kreuzlieben Strickschal-auf-Korbstuhl-Drapierer als Bestandteil einer nachweislich grausamen Wirklichkeit ernstzunehmen, müssen uns deshalb immer wieder selber in den Oberarm knuffen und mit den Worten „Die wollen doch auch nur, dass sie jemand lieb hat!“ zur Mäßigung gemahnen. Auch wenn man sich zwischendurch schon doch auch mal die bange Frage stellt, ob das wirklich diejenigen sein sollen, die hier irgendwann mal den ganzen Laden am Laufen halten sollen, wenn bei uns Vintage-Menschen erstmal der grimme Schnitter hingesenst hat.
Denn seien wir ehrlich: Obgleich wir als aufgeklärte Demokraten es uns aus moralisch völlig validen Gründen kategorisch untersagen, das täglich an uns vorbeiscrollende hominide Panoptikum spontan und völlig subjektiv in wertes und unwertes Leben zu unterteilen – klammheimlich hat sich doch fast jeder von uns schon mal so rein gedankenspielerisch gefragt, welche konkrete Liste essentieller Fähigkeiten diese Armee von glutenbereinigten Hanfklamotten-Models wohl zum Wiederaufbau einer hypothetischen 2.0-Zivilisation beizutragen hätte, sollte die ursprüngliche dann doch mal durch irgendwelche hochwirksamen Atomkriege oder Zombie-Apokalypsen dahingerafft werden.
Zugegeben: In diesem Szenario sähe ich sogar meine eigenen Überlebenschancen doch eher im einstelligen Prozentbereich, obwohl ich sogar noch weiß, wie Zeitansage und Testbild gehen. Ich liebäugele daher auch regelmäßig mit dem rechtzeitigen Erwerb spezifischer Apokalypse-Fähigkeiten wie dem Stricken von Wasserfiltern oder der Synthese von Antibiotika aus Katzenstreu. Mein mühsam kumuliertes Wissen über französische Kettenraucher oder wie man in Videokonferenzen den Ton lauter kriegt, dürfte sich hingegen in den verstrahlten Wäldern der wandelnden Toten als ähnlich nutzlos erweisen wie die derzeit von einer ganzen Generation beinhart trainierte Fähigkeit, farblich abgestimmte Herbstdeko bei natürlichem Licht zu fotografieren.
Meanwhile schreiben bereits die ersten geläuterten Ex-Beeinflusser hochdotierte Bücher darüber, wie es sich anfühlt, das grotesk Zuendegedachte der Aufmerksamkeitsökonomie zu sein. Zu ihrer Retro-Buße gehören schauerliche Print-Interviews mit verzweifelten Tageszeitungsjugendbeilagen, bevor sie durch sämtliche Podcasts vertrockneter Ex-Pop-Literaten gescheucht werden, wo man sich dann gegenseitig versichert, wie wichtig es ist, sich täglich neu zu erfinden.
Aber man muss ja in meinem Alter zum Glück nicht mehr jeden Scheiß mitmachen. Soll heißen: Ich werde all das wahrscheinlich bzw. hoffentlich verpassen, weil ich derweil irgendwo von internetloser Natur umzingelt in einem Survival-Seminar sitze und lerne, wie man Maikäfer entgrätet und Aspirin aus alten Socken destilliert oder was auch immer man da halt so macht. Konzentration auf das Wesentliche. Und wenn ich mal muss, bin ich wenigstens schon mal im Wald.