Vor noch gar nicht allzu langer Zeit hätte ich nicht gedacht, so etwas jemals zu sagen, doch spätestens, nachdem ich nun „Rogue One“ gesehen habe, beginne ich mir ernsthaft zu wünschen, Disney hätte das „Star Wars“-Franchise schon viel früher in die Finger bekommen. Kaum auszudenken, was für grandiose Filme Episode I-III womöglich hätten werden können, hätte man nur George Lucas dereinst rechtzeitig und konsequent von ihnen fern gehalten…
Aber darum soll es jetzt gerade mal nicht gehen. Eigentlich wollte ich nur ein bissl dahererzählen über einen ganz bestimmten Moment während des Films und ein kleines Häufchen von Gedanken, welches ich hinterher beim Aufräumen im Kopf als davon hinterlassen vorfand.
Es gibt da nämlich diese eine Stelle zu Beginn des dritten Aktes: Die titelgebend soeben zu „Rogue One“ erklärte Rebellenschar hat sich nach allerlei Heckmeck zusammengefunden und den Ort erreicht, an dem die finale Ausübung ihres Rebellentums erfolgen soll. Kurzerhand wird in einem engen, stickigen Raumschiffinneren durch den heterogenen Haufen versammelter Stahlhelm-Gestalten hindurchgeschnitten, während in guter alter, militärisch knapper Kriegsfilm-Manier Namen und Zuständigkeiten heruntergerasselt werden, man kennt das ja: „Schmidt: Bomben! Mayer: Maschinengewehr! Müller: Doof rumrennen und nix kapieren und am Schluss erschossen werden! Schulze: Edeka wg. Kaffee und Kekse für nachher!“ usw. Ganz am Schluss dieser klassischen Aufzählungssequenz landet die Kamera dann bei – Jyn Erso. Der Protagonistin des Films – heutzutage heißt es wohl „Female Lead“ – und einzigen Frau im Raum! Die Einstellung verharrt einen winzigen Augenblick auf der schweigenden Dame, die grimmigen Blicks an der Kamera vorbei in eine gewalttätige Zukunft schaut, obwohl sie als einzige keine explizite Aufgabe zugeranzt bekam – denn ihre stand schon längst fest, und es ist die schwierigste und gefährlichste von allen. Dennoch: Diese kurze Einstellung erzeugte eine Art Vakuum, und in dieses kam bei mir ein winziger sarkastischer Gedankensplitter hereingeplatzt und legte ihr folgenden Satz in den schweigenden Mund: „Ok, und ich … äh … steh einfach hier und sehe hübsch aus…“
Fast möchte ich vermuten, der Regisseur hat diesen Moment absichtlich eingebaut, um womöglich genau diesen Gedanken zu provozieren? Es wäre einer der subtilsten kleinen Geniestreiche der jüngeren Kinogeschichte.
Denn das massiv Ironische an diesem Gedankensplitter ist natürlich, dass Jyn Erso nun wirklich alles mögliche tut im Verlaufe des Films, aber nur rumstehen und hübsch aussehen gehört ganz sicher nicht dazu. Vielmehr ist sie von Anfang an Angelpunkt und treibende Kraft der Geschichte, und sie ist stets ohne zu zögern an vorderster Front dabei, wenn die Kacke auf den Ventilator trifft. Ich denke, ich setze mich keinen allzu großen Kontroversen aus, wenn ich sie einfach mal sowohl unter „tragende Figur“ als auch „positives Rollenbild“ verorte. Das letzte jedenfalls, was man ihr vorwerfen könnte, wäre dramaturgische Nutzlosigkeit – immerhin würde insbesondere das entscheidende letzte Drittel des Films ohne sie schlichtweg nicht stattfinden.
Warum also habe ich das dann überhaupt gedacht? Dazu muss ich wohl ein ganzes Stück zurückwandern in meiner persönlichen Sozialisation, in jene Zeit, als ich so ca. 12 Jahre alt war und entscheidende Teile meiner Erziehung frohgemut von den popkulturellen Errungenschaften jener Zeit übernehmen ließ, namentlich den hypermaskulinen Sonderfällen aus der Stallone-Schwarzenegger-Chuck-Norris-Kategorie oder den nur wenig dezenteren Kinoklassikern wie „Indiana Jones“, „James Bond“, „Quatermain“… you name it. Und in jenen Zeiten, die ich hier mal ganz bewusst und explizit nicht als „gute alte“ gedacht wissen möchte, hatten Frauen in Filmen recht oft tatsächlich nicht viel mehr zu tun, als rumzustehen und hübsch auszusehen. Vielleicht noch, hin und wieder irgendwo eingesperrt zu werden oder sich vor Schlangen zu ekeln oder sowas. Der Bechdel-Test wurde nicht ohne Grund erfunden, und es gibt nicht ohne Grund so viele Filme auch und gerade aus jener Ära, die dabei mit wehenden Fahnen durchfallen.
Einer der Gründe, warum ich z.B. bei aller grundlegenden Sympathie für die Reihe und ihren Helden den Film „Indiana Jones und der Tempel des Todes“ bis heute nicht ausstehen kann, ist die Tatsache, dass er mich in Gestalt von Wilhelmina „Willie“ Scott mit einer der nervigsten und überflüssigsten Frauenfiguren aller Zeiten belästigt hat. Willies einzige Aufgabe bestand mehr oder weniger darin, mächtig blond und schreckschraubig-überkandidelt durch den Dschungel zu stöckeln und dabei ständig von irgendwas erschreckt oder von irgendwas anderem mit einer Waffe bedroht zu werden. Wenn das nicht der Fall war, nörgelte sie oder fiel irgendwo runter oder beides. Dafür war sie akustisch höchst präsent: gefühlte 90 Prozent der Zeit kreischte sie nur panisch oder schrie jemanden an. Sie war gewissermassen die endgültige Kulmination eines ganz bestimmten Typus von weiblichen Filmfiguren, denen mit dem schlichten Attestieren dramaturgischer Überflüssigkeit noch massiv geschmeichelt wäre. Wahrscheinlich bzw. hoffentlich wird sich auch Spielberg selber ob dieser inszenatorischen Verfehlung noch bis ins Grab hinein in Grund und Boden schämen. Scheinbar war ihm das ganze im Nachhinein sogar so peinlich, dass er die Darstellerin Kate Capshaw später aus lauter Verlegenheit geheiratet hat, um sich fortan für den Rest seines Lebens täglich dafür entschuldigen zu können.
Man darf sich an dieser Stelle ruhig kurz die Zeit nehmen, dieses Bild ein wenig atmen zu lassen, dafür sind solche zusammenphantasierten kleinen Textstellen ja schließlich da: Zuhause bei Spielbergs, das footballfeldgroße Schlafzimmer des Ehepaars. Es ist 6 Uhr in der Früh und ein unsichtbarer Wecker summt soeben eine dezente Weckmelodie – Film-Milliardäre stehen grundsätzlich mit den Hühnern auf, das weiß man ja. Steven Spielberg, inzwischen schon etwas ergraut, wälzt sich nochmal seufzend auf die andere Seite, dann entsinnt er sich seiner Pflichten, tastet im sanften Halbdunkel nach seiner Nickelbrille, setzt sie auf die Nase und dreht sich zu seinem Weibe herum. Ihr zärtlich über die Wange streichend sagt er, so wie jeden Morgen in den letzten 26 Jahren: „Guten Morgen, mein verehrtes Eheweib. Ich hoffe, du hast angenehm geruht. Und bitte entschuldige nochmals für die Rolle der Willie. Es wird nie wieder vorkommen.“ Die solchermaßen Becircte wird freilich nun sanft mit den noch müden Augen blinzelnd seine Hand ergreifen und erwidern: „Schon gut, mein stolzer Gatte. Es ist ja nun schon über 30 Jahre her, und ich habe dir inzwischen schon beinahe verziehen, dass ich aufgrund der einzigen halbwegs erwähnenswerten Filmrolle meines Lebens dem gesammelten popkulturellen Bewusstsein für alle Zeiten als das menschliche Äquivalent einer quietschenden Drehtür im Gedächtnis bleiben werde.“ Dann steht sie auf und geht Kaffee für sie beide machen, und wie immer wird Spielberg den Kaffee mit ein wenig Zimt und einer Prise Bitterkeit trinken, denn er weiß genau, dass er sich für den Rest seines Lebens allmorgendlich wird weiter entschuldigen müssen, bis einer von ihnen den Weg des Irdischen geht. Und selbst dann…
Nun – ich denke, für Jyn Erso wird sich so schnell wohl niemand bei Felicity Jones entschuldigen müssen. Denn ich entwickle derzeit allmählich die leise Ahnung, dass ich hier Zeuge eines der seltenen Fälle der positiven Ausnutzung von Marktmacht werde: Disney hat mit „Star Wars“ eines der beliebtesten und umsatzstärksten Franchises aller Zeiten am Start und denkt vielleicht – wohl nicht ganz zu unrecht – sich in dieser Position durchaus ein paar Experimente erlauben zu können. Das ist jetzt der zweite Disney-Star-Wars mit einem expliziten Female Lead und dazu einem dezent aber eindeutig ethnisch diversen Drumherum-Cast. Angesichts der normalerweise zutiefst konservativen Stoffentwicklungs- und Besetzungspolitik Hollywoods (bzw. eines soeben zum Präsidenten gewählten ausgesprochenen Frauen-, Muslimen- und sonstige Ausländer-Hassers wie Donald Trump) könnte man die Entscheidung, einige der tragendsten und heroischsten Rollen mit einer Frau, einem Mexikaner, einem Araber und zwei Asiaten und die Rollen der Bösewichter ausschließlich mit alten weißen Männern zu besetzen, zumindest im Rahmen eines klassischen Blockbuster-A-Movie schon fast als subversiv bezeichnen. Zumindest aber als einen augenzwinkernden Schritt weg von der ängstlichen „Bloß die weißen Kerle nicht verärgern!“-Pfennigfuchserei, von der das US-Kino seit eigentlich immer schon maßgeblich bestimmt zu sein scheint. Eventuell denkt man sich bei Disney aber auch, dass es betriebswirtschaftlich letztendlich ein vertretbares Risiko darstellt, eventuell ein paar tausend allzu vergnatzte Frauenfeinde als Fans zu verlieren und dafür langfristig ein paar hundert Millionen bislang eher desinteressierter Frauen dazu zu gewinnen. Wenn das keine klassische Win-Win-Situation wäre, dann weiß ich nicht, was sonst.
Ich sollte vielleicht noch dazu erwähnen: Wir saßen im Kino mit einem alten Freund von mir sowie seinen beiden Söhnen, sie sind gerade mal 11 und 13 Jahre alt. Und ich möchte die beiden Jungs schon fast ein bisschen beneiden, nicht nur darum, mit was für grandiosen neuen Filmen sie aufwachsen dürfen, sondern auch, dass sie in einer so prägenden Phase ihrer Entwicklung von den Mainstream-Medien ein mitterlerweile wohl wenigstens etwas akzeptableres Frauenbild geboten bekommen, als das noch zu meiner Zeit der Fall war. Sie können einer Jyn Erso zusehen, wie sie dem Imperium in den Hintern tritt und so weiter – und brauchen darüber nicht weiter zu staunen. So ist das eben in der Welt: Frauen machen wichtiges Zeugs und sind gut darin. Ende der Geschichte.
In so einem Augenblick frage ich mich, ob es nicht hilfreich sein könnte, den derzeit aktiven Feministinnen kurz zuzurufen: „Hey, ihr großartigen Damen! Nur so eine Idee, aber… vielleicht ist euer aktuelles Abarbeiten an den mysogynen Volldeppen jenseits der 40 einfach nur eine Verschwendung kostbarer Zeit und Energie? Ich denke, wir können inzwischen davon ausgehen, dass dort keine allzu großen flächendeckenden Lerneffekte mehr zu erwarten sind. Wieso konzentrieren wir uns nicht stattdessen noch viel mehr auf die 12jährigen Jungs? Die Männer von Morgen? Junge Menschen, deren Weltbild erst noch dabei ist sich zu verfestigen? Wer weiß – wenn wir es schaffen, neben ihrem Alltag auch ihre mediale Welt nur mit genügend brauchbaren Frauenfiguren vollzupflastern, haben wir vielleicht irgendwann eine kommende Generation von Söhnen, Brüdern, Ehemännern und Vätern, für die es eine achselzuckende Selbstverständlichkeit ist, dass sich Männlein und Weiblein ohne viel Getue auf Augenhöhe begegnen. Dann wären auch endlich all diese albernen Männerrechts-Peinlichkeiten endgültig und tatsächlich nur noch die allmählich verpuffende letzte Sprechblase eines emotional wie intellektuell basisdefekten Haufens narzisstischer Randerscheinungs-Freaks, der sie eigentlich heute schon sind, nur hat es sich leider noch nicht ganz bis zu ihnen herumgesprochen.“
Und genau an diesem Punkt kämen dann wohl auch wir Schreibenden ins Spiel. Bzw. unsere Bereitschaft, an diesem Zupflasterungsgeschehen maßgeblich teilzuhaben. Man verstehe mich nicht falsch – ich verlange keineswegs, fortan ein jedes Werk zu einem explizit flammenden feministischen Manifest zurechtzudoktern. Das ist gar nicht nötig und vielleicht auch eher kontraproduktiv. Mit Honig fängt man bekanntlich mehr Fliegen als mit Essig. (Und wer jetzt sagt: „Ja, aber mit Scheiße noch viel mehr!“, dem sage ich: Ein Punkt für Logik. Zehn Punkte Abzug für schlimme Wörter! Etikette, Herrschaften! Echt jetzt mal.)
Lasst uns doch einfach nur packende Geschichten erzählen, in denen gut geschriebene Frauenfiguren tragende Rollen spielen dürfen. Kompetent, aber auch mit Fehlern, sie dürfen die Guten sein und auch die Bösen, oder auch irgendwas dazwischen. Nicht perfekt, aber dreidimensional und glaubwürdig. So wie echte Menschen eben. Lasst uns unsere weiblichen Charaktere genauso grandios, vielschichtig und lebensnah erschaffen, wie es die männlichen seit jeher schon sein durften. Lebendige, atmende Wesen, die zwar zufällig mit einer Inneninstallation rumlaufen, was allerdings so was von überhaupt kein irgendwie nennenswertes Kriterium für irgendwas darstellt. Eine Welt, in der das Erbe einer Jyn Erso zur Blüte kam und sich niemand mehr für eine Willie entschuldigen muss. Ich stelle mir vor, dass das klug und richtig wäre und eigentlich auch nicht so monströs schwer zu bewerkstelligen – wir brauchen eigentlich nur die Augen aufzumachen, denn die realen Vorbilder sind überall um uns herum. Einfacher geht es doch schon fast nicht mehr. Und wenn ausgerechnet Disney uns zeigt, dass es machbar ist… darf das Hoffnung machen? Ich denke: ja.